Katastrophenforscherin Elke Geenen über das Chaos in New Orleans
Berlin - Katastrophen sind immer nicht nur durch die Natur verursacht, sondern auch der Mensch hat seinen Anteil. Kirstin Wenk sprach über die Ursachen für das Chaos mit der Katastrophenforscherin Elke Geenen, Gründerin des Instituts Isokia und Dozentin für Soziologie an der Universität zu Kiel.
Die Welt: Warum ist die Katastrophe soviel schlimmer als anfangs vermutet?
Elke Geenen: Angesichts der Tatsache, daß man sich auf einen Hurrikan vorbereiten kann - anders als bei Erdbeben -, waren die Vorbereitungen miserabel. Es herrscht ein größeres Chaos als bei dem Erdbeben 1999 in der Türkei. Vor dem Hurrikan haben die Behörden nicht deutlich genug kommuniziert, daß wirklich möglichst jeder New Orleans verlassen muß. Die Busse, die jetzt zur Evakuierung bereitstehen, hätten schon vor der Katastrophe dasein müssen. Auch im Superdome, in den sich Zehntausende gerettet haben, waren kaum Lebensmittel. Es fehlen Schlauchboote. In Europa und in den USA bereiten sich die Behörden leider traditionell nicht auf den schlimmsten Katastrophenfall vor. Anders ist es in Japan, wo das Verhalten bei Katastrophen schon von klein auf in den Schulen geübt wird.
Die Welt: Warum war New Orleans schlecht geschützt?
Geenen: Durch die Klimaerwärmung wächst das räumliche Ausmaß von Hurrikanen. Das ist wissenschaftlich weitgehend unumstritten. Die Gegend um New Orleans, die unter dem Meeresspiegel liegt, war dafür äußerst schlecht geschützt. Die Deiche waren nicht intakt - und brachen. Je gefährdeter eine Stadt ist, desto stärker muß die Sicherheit erhöht werden.
Die Welt: Was ist das spezifisch amerikanische Problem im Umgang mit dieser Katastrophe?
Geenen: Die Bundesstaaten sind nicht genügend mit Ressourcen für Soforthilfe ausgestattet. Auch hat die Abstimmung zwischen Staaten und nationalen Behörden offenbar nicht gut funktioniert.
Die Welt: Wie konnten so schnell Anarchie und Chaos ausbrechen?
Geenen: Die sozialen Unterschiede in den USA sind sehr groß. Nur die Ärmsten sind in der Stadt zurückgeblieben. Das sind meist Schwarze, denen jetzt zu spät geholfen wird. Sämtliche staatliche Strukturen und sozialen Netze sind zusammengebrochen beziehungsweise zerrissen. In der Notsituation, in der es ums nackte Überleben geht, haben sich Banden gebildet. Es geht hier um einen existentiellen Kampf um knappe Ressourcen.
Die Welt: Die Gouverneurin von Louisiana, Kathleen Blanco, hat Schießbefehl gegen Randalierer und Diebe erteilt. Ist das angemessen?
Geenen: Man muß unterscheiden: Einerseits gibt es Menschen, die sich jetzt bereichern. Auch ist es selbstverständlich, daß sich Hilfskräfte gegen Angriffe wehren. Auf der anderen Seite kämpfen die Menschen ums nackte Überleben. Meiner Meinung nach kann man nicht mehr von Plünderungen sprechen. Es ist eine Situation des Werteverfalls. Wer sich auf externe Hilfe verläßt, ist selbst verlassen. Insofern ist es bedauerlich, daß die Hälfte der Hilfskräfte mit der Sicherung beschäftigt ist und nicht mit der Rettung. Der Staat reagiert machtpolitisch, die Bevölkerung wird zum inneren Feind erklärt.
© WELT.de 1995 - 2005
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Das Interview wurde am 02. September 2005 geführt und ist am 03. September 2005 in der Welt und am 04. September 2005 in der Morgenpost erschienen.
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