Soziologin Elke Geenen kritisiert Versäumnisse.
von Kirstin Wenk
Bei Erdbebenkatastrophen wird den Dorfbewohnern immer zuletzt geholfen, kritisiert Elke Geenen, Soziologie-Dozentin an der Universität zu Kiel und Gründerin des Katastrophenforschungsinstituts Isokia. Das Gespräch führte Kirstin Wenk.
DIE WELT: Warum sind noch immer 2000 Dörfer in Pakistan von der Außenwelt abgeschnitten?
Elke Geenen: Nach Erdbebenkatastrophen konzentriert sich die Hilfe immer zuerst auf die Städte. Gerade in unzugänglichem Gelände, wie in Kaschmir, sind diese natürlich leichter zu erreichen. Zudem kann der Staat dort die eigene Tatkraft demonstrieren. Hilfe findet immer da zuerst statt, wo sie sichtbar ist. Statt dessen hätte sofort ein Plan entworfen werden müssen, nach dem systematisch und vor allem dezentral vorgegangen wird.
DIE WELT: Das Militär in Pakistan verschlingt die Hälfte des Staatshaushalts. Warum gelingt es dem hochmilitarisierten Staat nicht, die Katastrophe zu bewältigen?
Geenen: Im Militär spielt die Oberschicht des Landes die führende Rolle. Sie kommt meistens nicht aus den Bergdörfern, sondern aus den Städten. Deshalb liegen der Militärführung diese näher.
DIE WELT: Warum sind bei dem Erdbeben die öffentlichen Gebäude, wie Krankenhäuser und Schulen, als erstes zusammengebrochen?
Geenen: Gerade in einem hochgradig erdbebengefährdeten Gebiet wie Kaschmir müßten öffentliche Gebäude die sichersten der Welt sein. Man kann zumindest so bauen, daß bei einem Beben genug Zeit bleibt, nach draußen zu flüchten, bevor das Haus zusammenbricht. Das ist durch relativ einfache Dinge möglich, wie stabilisierende Stahl- oder Holzträger in Wänden und Decken. Auch könnten durch die traditionelle Kuppelbauweise viele Tragödien verhindert werden, da runde Bauten Schwingungen besser auffangen. Der Bau öffentlicher Gebäude wird jedoch ausgeschrieben. Das billigste - nicht das sicherste - Angebot bekommt den Zuschlag. Nun ist die Katastrophe da. Das Gesundheitswesen ist zerstört, weil Ärzte und Krankenschwestern durch die Trümmer getötet wurden. Eine ganze Generation von Schulkindern in Kaschmir ist ausgelöscht. Pakistan und auch die internationale Gemeinschaft haben es versäumt, Vorkehrungen gegen die Katastrophe zu treffen, obwohl indische und amerikanische Wissenschaftler ein sehr schweres Beben bereits vor vier Jahren nach einer Expedition in die Region vorausgesagt hatten.
Artikel erschienen am Don, 27. Oktober 2005
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Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages
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